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Als Prozessanwalt steht man häufig vor der Wahl zwischen einem gegenseitigen Nachgeben (Vergleich) oder dem manchmal langwierigen und steinigen Weg bis zu einem Urteil (womöglich erst in zweiter oder dritter Instanz). Beides hat Vorteile und Nachteile. Schnelles Geld ist manchmal gutes Geld. Sich mit dem Gegner zur einigen, kann ein Vorteil sein, wenn man weiter mit ihm Geschäfte machen will oder anderweitig mit ihm verbunden bleiben wird (Beispiel: Nachbarschaftsstreitigkeiten!). Und letztlich ist auch der Bonus, den das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz dem Anwalt für einen Vergleichsabschluss in Form einer zusätzlichen Gebühr in Aussicht stellt, nicht ganz zu verachten.

 

Letztlich geht es aber immer nur um eines, wenn man die Interessen seines Mandanten konsequent vertreten will: Man muss prognostizieren, wie der Rechtsstreit ohne Vergleich ausgehen würde. Sind die eigenen Chancen schlecht einzuschätzen, empfiehlt sich der Abschluss eines Vergleichs. Sind die eigenen Chancen gut, könnte man den Erlass eines Urteils riskieren.

 

Und hierin liegt auch das eigentliche Problem, weil eine solche Prognose häufig einem Blick in die Glaskugel gleicht, insbesondere dann, wenn eine umfangreiche Beweisaufnahme durchzuführen ist, deren Ergebnis man kaum seriös abschätzen kann. In anderen Fällen kann die Rechtslage sehr kompliziert sein oder die Entscheidungsspielräume des Gerichts (das sogenannte Ermessen) sehr groß, sodass man lieber als Anwalt das Heft des Handelns in der eigenen Hand behalten möchte.  Juristerei ist halt keine Mathematik und in einem Gerichtsprozess ist die Summe aus 2+2 nicht immer 4. Sie kann bildlich gesprochen durchaus 3 oder 5 sein.

 

Der Verhaltenspsychologe nennt dies „Entscheidung unter Unsicherheit“. Sie betrifft sämtliche Beteiligte an einem Rechtsstreit oder einem Strafverfahren. Sowohl die Rechts- und Staatsanwälte entscheiden unter Unsicherheit, erst recht aber die ggf. abschließend entscheidenden Richter.

 

Bei solchen Entscheidungen unter Unsicherheit verwenden die Menschen häufig so genannte Urteilsheuristiken. Das sind einfache Faustregeln, die komplexe Entscheidungen vereinfachen. Solche Heuristiken sind sozusagen „mentale Abkürzungen“, die Menschen nutzen, um schnell und effizient Urteile zu fällen, ohne auf vollständige Information und Informationsauswertung angewiesen zu sein. Sie führen in der Regel in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen zu guten Entscheidungen, können aber auch systematisch Fehlurteile begünstigen (Effer-Uhe/Mohnert, Psychologie für Juristen, 1. Aufl. 2019 Rn 51).

 

In diesem Beitrag vom Juli 2018 hatte ich mich schon mal mit diesen „mentalen Abkürzungen“ beschäftigt:

 

https://www.schauseil.eu/wie-entscheiden-eigentlich-richter/

 

Richter entscheiden häufig nach solchen Urteilsheuristiken und Anwälte natürlich auch. Was sollen sie auch anders machen, wenn die vollständigen Informationen, die für die Beurteilung eines komplexen Lebenssachverhalts notwendig sind, nicht vorliegen? Nach einer umfassenden Beweisaufnahme und exakten, vollständigen Erforschung des Sachverhalts ist der Blick klarer und das Ergebnis nach einer  rechtlichen Subsumtion besser abzuschätzen. Zum Beginn eines Prozesses, in einer Güteverhandlung, besteht regelmäßig eine große Unsicherheit über dessen Ende für den Fall, dass das Gericht ein Urteil fällen muss.

 

Es gibt daher prinzipiell gute Gründe, zeitnah zu einem Vergleich zu kommen, der Zeit, Mühe und Kosten spart und der die Unsicherheit, den ungewissen Ausgang des Rechtsstreits, beseitigt.

 

Das eigentlich Interessante an dieser Thematik (und nur deshalb schreibe ich diesen Artikel) ist dabei, dass nunmehr selbst im Rahmen solcher Vergleichsverhandlungen Urteilsheuristiken eine Rolle spielen. Eine davon ist der Darstellungseffekt (Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, Diss. 2005). Das hervorragende Werk von Mark Daniel Schweizer ist im Netz frei zugänglich und kann an sich nur jedem Juristen zur Lektüre empfohlen werden:

 

https://www.markschweizer.ch/wp-content/uploads/2017/09/schweizer_kognitive_t%C3%A4uschungen_vor_gericht.pdf

 

 

Und hier hat man ganz Erstaunliches herausgefunden.

 

Gerichts- und Schiedsverfahren bilden einen natürlichen Rahmen, um finanzielle Aussichten als Gewinne oder Verluste darzustellen. In den meisten Fällen zivilrechtlicher Klagen hat der Kläger die Wahl, entweder eine gewisse Summe als Vergleich zu akzeptieren oder den Prozess fortzuführen in der Hoffnung, durch ein Urteil mehr zu erhalten. Der Beklagte hingegen wählt zwischen der Alternative, mit Sicherheit einen gewissen Betrag zur sofortigen Erledigung des Streites zu bezahlen und der Chance, zu einer geringeren oder gar keiner Zahlung verurteilt zu werden. Kläger wählen daher zwischen Optionen, die – immer verglichen mit dem Status quo – Gewinne darstellen, während Beklagte zwischen Optionen wählen, die Verluste repräsentieren. Und Experimente haben tatsächlich bestätigt, dass Kläger eher den Vergleich – die risikolose Wahl – vorziehen, während Beklagte die Fortführung des Verfahrens, also die riskante Option, wählen! Dies deckt sich auch mit meinen forensischen Erfahrungen, wonach es meistens schwieriger ist, als Kläger einen Vergleich zu schließen, als wenn ich Mandanten auf der Beklagtenseite vertrete. Da hat man es tatsächlich häufiger mit Gegnern zu tun, die darauf vertrauen, mit einem Urteil besser zu fahren. Selbst erfahrene Prozessanwälte mit durchschnittlich zwölf Jahren Berufserfahrung unterliegen diesem Darstellungseffekt (Schweizer a.a.O. mit Hinweis auf eine Untersuchung von Babcock/Farber/Fobian/Shafir, 1995).

 

Dies kann letztlich aber ein fataler Irrtum sein. Das höhere Risiko der Beklagten zahlt sich in der Praxis häufig nicht aus. Wissenschaftliche Analysen von Gerichtsprozessen in den USA und in der Schweiz haben hier zum Ergebnis geführt, dass Kläger gegenüber einem zuvor gescheiterten Vergleich durch das spätere Urteil überwiegend besser gestellt worden sind. Die Beklagten fuhren dagegen wirtschaftlich überwiegend schlechter durch das sie belastende Urteil, als wenn sie den abgelehnten klägerischen Vergleich angenommen hätten.

 

Schweizer (a.a.O.) stellt daher zu dieser Thematik abschließend fest:

 

Die Kläger, weil sie risikoscheu sind, sind zu schnell bereit, den Streit vergleichsweise zu erledigen, während Beklagte wegen ihrer Risikobereitschaft selbst dann auf einem Urteil bestehen, wenn die voraussichtlich durch das Urteil zugesprochene Summe über dem Vergleichsangebot der Gegenseite liegt. Kläger sollten daher ermutigt werden, weniger nachgiebig zu sein, während Beklagten verstärkt zu einem Vergleich zu raten ist.“

 

Ich persönlich habe mich durch diese Erkenntnisse in meinen Handlungen und Entscheidungen bestärkt gefühlt. Ich habe schon immer die Auffassung vertreten, dass man sich einem guten Vergleich niemals verschließen soll, weil es letztlich fast immer eine wirtschaftliche Frage ist. Prinzipienreiterei ist kein guter Ratgeber in einem Zivilprozess. Dies gilt auch dann, wenn man auf der Beklagtenseite steht und gegenüber dem Status quo etwas zahlen muss. Ist es weniger als beim zu erwartenden Urteil, hat man erfolgreich gearbeitet.

 

Bildquelle: https://pixabay.com/de/photos/gesch%C3%A4ft-angebot-vereinbarung-4107640/