Wie gelangen Richter eigentlich zu einem Urteil, wenn der zu beurteilende Sachverhalt streitig ist? Ist der Angeklagte schuldig im Sinne der Anklage? Hat er die ihm vorgeworfene Tat begangen? Hat der Beklagte in einem Zivilprozess den Unfall tatsächlich verursacht? Ist er beispielsweise bei Rot über die Ampel gefahren? Was wurde bei Vertragsverhandlungen tatsächlich besprochen, wenn versäumt worden ist, dies anschließend schriftlich zu fixieren?
Nun, die Prozessordnungen sehen verschiedene Beweismittel vor, die in solchen Fällen zu bemühen sind: die Einnahme eines Augenscheins (z.B. die Besichtigung des Unfallorts), die Einsichtnahme in Urkunden (Verträge, Rechnungen, Schriftverkehr), die Einholung von Sachverständigengutachten oder aber (das wohl wichtigste, aber gleichzeitig unzuverlässigste Beweismittel überhaupt) die Befragung von Zeugen.
Die Zentralnormen zur Beweiswürdigung beim Zivil- und Strafprozess besagen im Prinzip dasselbe:
- 286 ZPO: „Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.“
- 261 StPO: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“
Das Gericht muss also von der Wahrheit überzeugt sein. Mehr ist nicht nötig. Die subjektive „Gewissheit“, dass etwas wahr oder unwahr ist, reicht aus. Wie das zu geschehen hat, ist ein weites Feld der täglichen Auseinandersetzung, insbesondere wenn Aussage gegen Aussage steht. Mittlerweile wurde vom Bundesgerichtshof zumindest für Strafsachen anerkannt, dass die Aussagepsychologie und deren Erkenntnisse ein probates Mittel für die Erforschung der Wahrheit darstellt (BGH Urteil vom 30.7.1999 – 1 StR 618-98, NJW 1999, 2746 = StV 1999, 473 = BGHSt 45, 164 = FamRZ 1999, 1648 = JZ 2000, 262; für Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen jüngst erst BGH Urteil vom 7.2.2018 – 2 StR 447/17 [LG Gera], NStZ-RR 2018, 220 = BeckRS 2018, 2801). Auch sie führt, z.B. über die Anwendung sogenannter Realkennzeichen und der Verwendung der Nullhypothese nicht zu eindeutigen Erkenntnissen, ist aber mit Abstand die beste Methode, die wir haben. Für den Zivilprozess steht eine solche Aussage des obersten deutschen Instanzgerichts noch aus. Einige Zivilgerichte folgen dieser Erkenntnis aber völlig zurecht bereits (u.a. OLG Frankfurt Urt. v. 9.10.2012 – 22 U 109/11, BeckRS 2012, 24069 = NJW 2013, 664; ähnlich: OLG Frankfurt, Urteil vom 08.02.2011 – 22 U 162/08, BeckRS 2011, 04241; LAG München Urteil vom 9.11.1988, NZA 1989, 597).
Das größte Problem dabei ist, dass die Aussagepsychologie in der juristischen Ausbildung eine bestenfalls marginale Rolle spielt und viele Richter auch später nicht willens oder in der Lage sind, sich dieses Wissen selbstständig anzueignen, sich also in einem „fremden“ wissenschaftlichen Gebiet fortzubilden. Sie bilden ihre Überzeugung daher häufig nach vermeintlichen Alltagstheorien, die weder zutreffen müssen, noch empirisch gesichert sind. Oder sie lassen sich (fast schlimmer noch) maßgeblich vom äußeren Anschein, von einer so genannten Glaubwürdigkeitsattribution der aussagenden Personen (Zeugen) leiten (Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, Hogrefe-Verlag 2008, S. 497 ff.). Darunter wird ein Prozess der Eindrucksbildung bezeichnet, bei dem eine subjektive Zuschreibung von Glaubwürdigkeit der Aussage eines Senders durch einen Empfänger erfolgt, welche nicht auf einer systematischen Verhaltensanalyse beruht. Statt also mittels Realkennzeichen und den weiteren Erkenntnissen der Aussagepsychologie zu beurteilen, ob eine Aussage wahr oder nicht wahr ist, werden häufig einfache Entscheidungsregeln (Urteilsheuristiken) genutzt. Susanna Niehaus führt im Handbuch der Rechtspsychologie (a.a.O.) wie folgt aus:
„Im Gegensatz zur kognitiv aufwändigen Glaubhaftigkeitsdiagnostik ermöglichen die zur Glaubwürdigkeitsattribtion verwendeten Urteilsheuristiken im Alltag schnelle, kognitiv relativ wenig aufwändige, meist angemessene Entscheidungen. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage im Rahmen einer Gerichtsverhandlung kann dieses an einfachen Entscheidungsregeln orientierte Vorgehen jedoch schnell zu folgenschweren Fehlurteilen führen.“
Wie kommt nun ein Laie (darunter eben auch, wie Niehaus ausdrücklich anmerkt, ein Polizist oder ein Richter, der sich nicht das Rüstzeug der Aussagepsychologie aneignet) zu einem Eindruck von der Glaubhaftigkeit einer Aussage?
Es ist das Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses. Untersuchungen haben ergeben, dass der Empfänger (also beispielsweise der Richter) folgende Aspekte als Informationen heranzieht, um zu einer Einschätzung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage zu gelangen: Erscheinungsbild, Kontextinformationen, Vorabinformation zur Glaubwürdigkeit, selbstbeschreibende Äußerungen des Aussagenden, Sachverhalt, verbale Darstellung, non-und paraverbales Verhalten. Aus Kenntnissen der Situation (Kontextinformationen), in der eine Aussage erfolgt, leitet der Empfänger (Richter) ab, welche Motivation der Aussage des Senders (Zeugen) zugrundeliegen könnte. Glaubwürdigkeit wird beispielsweise umso eher angenommen, je weniger der Zeuge im eigenen Interesse zu handeln scheint. Die äußere Erscheinung des Zeugen (z.B. Kleidung) wird vom Richter als Hinweis auf Werthaltung, sozialen Status und sogar Charakter interpretiert und dient diesem zur Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Informationsquelle. Ein Zeuge z.B., der dem Richter sympathisch ist oder ähnliche Einstellungen aufzuweisen scheint wie er selbst, kann den Richter danach leichter überzeugen. Auch Vorinformationen über die Reputation des Zeugen können vom Richter bereits im Vorfeld der Kommunikation zur Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit herangezogen werden und lenken den anschließenden Informationsverarbeitungsprozess. Selbstbeschreibende Äußerungen des Zeugen vermitteln dem Richter einen Eindruck von der (vermeintlichen) Kompetenz, Ehrlichkeit und aktuellen Motivation des Zeugen. Nonverbale Verhaltensmerkmale wie das Vermeiden des Blickkontaktes oder Anzeichen von Nervosität wie wechselnde Körperhaltung oder Kratzen sowie paraverbale Verhaltensmerkmale wie zögerndes Sprechverhalten wirken sich negativ auf die wahrgenommene Glaubwürdigkeit aus, obwohl nach wissenschaftlich belegten Erkenntnissen derartige Verhaltensweisen nichts über den Wahrheitsgehalt einer Zeugenaussage aussagen. Experimente konnten belegen, dass insbesondere ein kraftloser Sprachstil unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt einer Aussage zu einer geringeren Glaubwürdigkeitsattribution führte. Dieses Ergebnis erscheint vor allem deshalb von Bedeutung, weil Frauen generell zu einem kraftloseren Sprachstil tendieren und somit im Nachteil sind. Auch introvertierte und sozial ängstliche Personen werden von ihrem Gegenüber als weniger glaubwürdig wahrgenommen.
Bezogen auf den Sachverhalt kommt der Plausibilität des Geschilderten zentrale Bedeutung zu. Bei der verbalen Sachverhaltsdarstellung achten Richter insbesondere auf logische Konsistenz und Widerspruchsfreiheit, obwohl hier eine Trennung von Kern- und Randbereich einer Aussage erfolgen müsste. Veränderungen im Randbereich einer Aussage sind über die Zeit hinweg zu erwarten und kein Anzeichen gegen die Glaubhaftigkeit einer Aussage. Völlig identische Sachverhalte, die verschiedene Zeugen bekunden oder die über verschiedene Aussagen hinweg gleich bleiben, sollten eher für Misstrauen sorgen. Eine plausible Darstellung eines Sachverhalts spricht für sich genommen ebenfalls nicht für ein tatsächlich erlebtes Geschehen, denn auch ein Lügner wird versuchen, durch einen plausiblen Sachverhalt das Gericht von seiner Version zu überzeugen. Potentiell selbstschädigende Äußerungen werden mit Ehrlichkeit assoziiert, obwohl auch dies für sich genommen kein Realkennzeichen ist, sondern nur dann, wenn diese freiwillig gegebenen Äußerungen nicht Bestandteil der Akte waren und der Zeuge daher nicht damit rechnen musste, diesbezüglich ohnehin überführt zu werden, sodass er nur etwas zugibt, was ohnehin bekannt ist oder aber noch ermittelt werden könnte. Negativ beeinflusst wird die Glaubwürdigkeitsattribution durch ausgefallene Details und Ereignisse, welche einer hohen Plausibilität im Sinne der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses abträglich wären, obwohl dies gerade Realkennzeichen wären, denn in der Realität verlaufen Vorgänge häufig eben nicht komplikationslos und eindimensional.
Die Intimität der Schilderung eines Zeugen, gemessen an offenbarten Emotionen und Gedanken, erscheint dagegen hervorragend geeignet, den Richter von seiner Glaubwürdigkeit zu überzeugen. So konnte nachgewiesen werden, dass der Emotionsgehalt einer Vergewaltigungsschilderung sich deutlich auf die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes durch den Richter auswirkt. Schildert also ein Opfer die Vergewaltigung emotionslos (was durchaus psychologisch nachvollziehbar erklärt werden kann), hat es vor Gericht möglicherweise schlechtere Karten.
Studien zeigen, dass die Probanden aufgrund dieser Kriterien die Glaubwürdigkeit von Aussagen nicht einschätzen können. Die diesbezüglich gemessenen Leistungen unabhängig von Berufsgruppe und Dauer der Berufstätigkeit überstiegen den Bereich der Ratewahrscheinlichkeit nicht wesentlich. Es gibt eben kein universellgültiges „Lügensyndrom“, aus dem man unabhängig von Person und Umstand den Wahrheitsgehalt einer Darstellung erschließen könnte. Dennoch nutzen Richter diese vermeintlichen Hinweise offenbar so schablonenhaft, als seien sie personen-und situationsabhängig einsetzbar. Geschickt genutzt, kann ein Zeuge im Wissen darum einen Richter z.B. durch sicheres Auftreten etc. beeinflussen und manipulieren. Besonders ungünstig wirkt sich auch aus, dass die menschliche Unfähigkeit, korrekte Glaubhaftigkeitsattributionen vorzunehmen, mit der unberechtigten Überzeugung einhergeht, diesbezüglich deutlich überdurchschnittliche Fähigkeiten zu besitzen. Diese realitätsferne Selbstüberschätzung ist inzwischen vielfach belegt und gilt gerade auch für Richter. Sie ist dadurch bedingt, dass sie nur selten korrigierende Rückmeldungen erhalten (gute Lügen bleiben unentdeckt) und Situationen, in denen sie besonders plumpe Täuschungsversuche aufdecken, leichter abrufen können.
Letztlich bleibt nur eine Schlussfolgerung, zu gerechten Urteilen zu gelangen: Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte müssen sich befleißigen, die beste Methode zur Beurteilung von Zeugenaussagen zu verwenden, die wir haben: nämlich die Aussagepsychologie, also der Inhaltsanalyse von Aussagen mittels Realkennzeichen und Lügensignalen. Darüber hinaus sind weitere Umstände zu berücksichtigen, die auf eine wahre Aussage einwirken können, z.B. Suggestionen, aber auch bereits Fehler bei der Wahrnehmung, Speicherung und Wiedergabe von Informationen. Das größte Manko neben der größtenteils nicht vorhandenen Qualifikation der beteiligten Juristen liegt dabei im Prozessrecht: bis heute gibt es (anders als z.B. im amerikanischen Prozessrecht) kein Wortprotokoll der Zeugenaussagen, weder schriftlich, noch z.B. mittels Tonaufzeichnung. Selbst im NSU-Prozess bei seinen fast 500 Verhandlungstagen über 5 Jahre hinweg und bei Hunderten von Zeugenaussagen waren Richter und Anwälte auf ihr Gedächtnis und ihre persönlichen, handschriftlichen Notizen angewiesen! Dieser kaum zu begreifende Umstand ist das größte Hindernis, zu „richtigen“ Urteilen zu gelangen, wenn es um Indizien geht und streitige Sachverhalte aufgeklärt werden müssen. Ohne Wortprotokoll ist eine umfassende Inhaltsanalyse von Zeugen- oder auch Partei- bzw. Beschuldigtenaussagen kaum möglich.
Allein der Umstand, dass dies vom Gesetzgeber nicht geändert wird, zeigt, wie wenig man begriffen hat und wie wenig man bereit ist, die Erkenntnisse der Rechtspsychologie zu beachten. Lieber nimmt man in Kauf, dass möglicherweise Unschuldige nach richterlichen Alltagstheorien und Glaubwürdigkeitsattributionen verurteilt werden.
Foto: Pixabay