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Es hat sich ganz offenkundig immer noch nicht bei allen Richterinnen bzw. Richtern herumgesprochen, dass zur Ermittlung der ohnehin nur relativen Wahrheit eines Sachverhalts ein schwerer Kardinalfehler darin besteht, einen Zeugen bei seinem so genannten „freien Bericht“ zu unterbrechen.

Aus gutem Grunde sehen die Prozessordnungen vor, dass ein zu einem bestimmten Sachverhalt vernommener Zeuge (nichts anderes sollte übrigens für die Aussagen von Parteien oder der Einlassung eines Angeklagten gelten) zunächst einmal das berichten soll, was ihm noch in Erinnerung ist:

Die Zivilprozessordnung (ZPO) regelt Folgendes:

  • § 396 Vernehmung zur Sache

(1) Der Zeuge ist zu veranlassen, dasjenige, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben.

(2) Zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem die Wissenschaft des Zeugen beruht, sind nötigenfalls weitere Fragen zu stellen.

In der Strafprozessordnung (StPO) heißt es hierzu:

  • § 69 Vernehmung zur Sache

(1) Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben. Vor seiner Vernehmung ist dem Zeugen der Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten, sofern ein solcher vorhanden ist, zu bezeichnen.

(2) Zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem das Wissen des Zeugen beruht, sind nötigenfalls weitere Fragen zu stellen. Zeugen, die durch die Straftat verletzt sind, ist insbesondere Gelegenheit zu geben, sich zu den Auswirkungen, die die Tat auf sie hatte, zu äußern.

Beide Verfahrensvorschriften verlangen also von dem zu vernehmenden Richter, den Zeugen das im Zusammenhang erzählen zu lassen, was er noch zum Sachverhalt weiß, ohne ihn zu unterbrechen. Dies wird als der so genannte „freie Bericht“ bezeichnet. Nur dann, wenn zur Aufklärung und zur Vervollständigung weiterer Aufklärungsbedarf besteht, sind Fragen zu stellen.

Was stellt man jedoch immer wieder in der Praxis fest?

Der Zeuge wird in seinem Bericht unterbrochen! Oftmals ziemlich schnell, sei es, weil der Richter ungeduldig ist und/oder wegen enger Terminierung keine Zeit hat; sei es, weil der Zeuge sich nicht adäquat ausdrücken kann, weil er vielleicht aufgeregt ist oder es ihm aus welchen Gründen auch immer schwerfällt, etwas im Zusammenhang auszusagen. Nichtsdestotrotz ist es ein schwerer Fehler, einen Zeugen zu unterbrechen, bevor er alles das bekundet hat, was er nach seinem Dafürhalten erzählen wollte. Dies ist unter den forensischen Psychologen völlig einhellige Meinung. Nur in der Justiz scheint sich das noch nicht rumgesprochen zu haben. Da drängt man einen Zeugen, „zur Sache zu kommen“. Da wird ihm nahegelegt, chronologisch zu berichten um, wenn dies nicht geschieht, sofort nachzufragen. Da wird scheinbar Nebensächliches damit abgetan, dass es „nicht zum Beweisthema“ gehöre. Ich habe sogar schon Zeugenvernehmungen mitansehen müssen, bei denen der Zeuge sofort mit Fragen konfrontiert wurde, ohne ihn auch nur berichten zu lassen. Da macht man sich gleich sehr beim Richter beliebt, wenn man ihn auf die oben zitierten Paragrafen hinweist.

Milne/Bull (Psychologie der Vernehmung, 2003) berichteten über zwei einschlägige Studien. Eine wurde in den USA durchgeführt von Fisher et al. (1987), die andere in Großbritannien von George (1991). Es wurden auf Tonband aufgezeichnete Vernehmungen aus einer großen Bandbreite unterschiedlicher Kriminalfälle untersucht, die allesamt von erfahrenen Polizeikräften mit einer durchschnittlichen Dienstzeit von 10,5 Jahren durchgeführt worden waren. Es wurde festgestellt, dass der freie Bericht eines Zeugen bereits nach durchschnittlich nur 7,5 Sekunden unterbrochen wurde!

Die Autoren stellten fest:

„Keiner der Vernommenen erhielt die Gelegenheit, den Bericht ohne Unterbrechung zu Ende zu bringen. Dieses Verhalten ist äußerst problematisch, da sich durch einen vollständigen freien Bericht normalerweise der größte Anteil korrekter und detaillierter Informationen ermitteln lässt.… Wer Zeugen unterbricht und dadurch die Vervollständigung des freien Berichts unterbindet, geht das Risiko ein, dass wertvolle Informationen verloren gehen.… Nach den ersten Unterbrechungen wird die vernommene Person bald davon ausgehen, dass dies auch im weiteren Verlauf des Gesprächs zu erwarten ist. Sie wird sich der offenbar vom Vernehmenden gewünschten zeitlichen Beschränkung anpassen und maßgeschneiderte, d.h. kürzere Antworten geben. Kürzere Antworten sind aber zwangsweise auch weniger detailliert. Mehr noch – nach mehreren unterbrochenen Antworten wird die vernommene Person Einzelheiten eher nicht erwähnen und weniger Anstrengungen unternehmen, sich an Details zu erinnern. Stattdessen wird sie eher oberflächliche Antworten geben. …“

Diese Untersuchungen entsprechen auch meinen gerichtlichen Erfahrungen. Ich stelle immer wieder fest, dass Zeugen oder auch Parteien eines Zivilprozesses oder auch Angeklagte (insoweit gibt es meines Erachtens keinen Unterschied) bereits nach kurzer Zeit unterbrochen werden und durch den Vernehmenden in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Hier gilt der Satz: Wer fragt, der führt. Unvoreingenommene Informationen sind dann nicht mehr zu erwarten. Der Vernehmende will dies wohl auch gar nicht. Er will nur noch seine Arbeitshypothese bestätigt haben (das Problem ist hier die so genannte kognitive Dissonanz, ein Phänomen, über das ich mal gesondert schreiben werde).

Wer also wirklich von Zeugen oder anderen Auskunftspersonen wissen will, wie etwas tatsächlich passiert ist, muss sie ausreden lassen. Dies verlangen schon die Prozessordnungen (aus gutem Grund). Nur dann wird man vielleicht zur Wahrheit vorstoßen. Wird bereits diese grundlegende Regel verletzt, kann man nicht erwarten, verlässliche Informationen zu erhalten, ganz abgesehen von den ohnehin erheblichen Fehlerquellen einer Zeugenaussage (Fehler in der Wahrnehmung, Fehler in der Speicherung des Wahrgenommenen, Fehler beim Erinnern und schließlich auch Fehler bei der Wiedergabe des Erinnerten). Wer dies nicht beachtet, dem unterstelle ich letztlich, dass er an einer wirklichen Sachverhaltsaufklärung gar nicht interessiert ist.

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