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In einem Verfahren vor dem Landgericht Gera schilderte der dortige Kläger einen Unfallverlauf, der sich so gar nicht mit den übrigen Tatsachenfeststellungen in Übereinstimmung bringen lassen wollte. Doch der Kläger, dem das Gericht in seiner persönlichen Anhörung viel Raum ließ, schilderte eindrucksvoll anhand von Fotos seines beschädigten Lkw, wie der Unfall im Einzelnen geschehen ist.

Unstreitig erlitt der Kläger anlässlich des Unfalls ein Schädelhirntrauma und war kurzzeitig bewusstlos. Zwei eingeholte unfallanalytische Gutachten, eines in seinem eigenen Prozess, bei dem es um Schmerzensgeld ging und ein weiteres in einem Regressprozess des Versicherers ergaben eindeutig, dass der Unfall so, wie ihn der Kläger schilderte, nicht passiert sein kann.

Welche Erklärung gibt es hierfür, wenn man nicht von einer bewussten Falschaussage des Klägers ausgehen wollte?

Die Erklärung ist relativ simpel, wird aber in der gerichtlichen Praxis so gut wie nie berücksichtigt. Schon leichtere Kopfverletzungen (z.B. ein Schädelhirntrauma 1. Grades) haben oftmals eine retrograde Amnesie zur Folge.

Bei Wikipedia findet man den folgenden Hinweis:

„SHT 1. Grades (Commotio cerebri oder Gehirnerschütterung): leichte, gedeckte Hirnverletzung mit akuter, vorübergehender Funktionsstörung des Gehirns. Sie geht mit sofortiger kurzfristiger Bewusstseinsstörung von einigen Sekunden bis zu maximal zehn Minuten einher. Weitere typische Symptome sind retrograde Amnesie (Gedächtnislücke für das Unfallereignis und einen Zeitraum vor dem Unfallgeschehen), Übelkeit und/oder Erbrechen.“

In der Wahrnehmungspsychologie ist daher anerkannt, dass bei solchen Unfällen keine sinnvollen Erinnerungen mehr bestehen können (Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 3. Aufl. § 23 Rn. 15; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. Rn. 137; Wendler, Wie ähnlich war der Unfall? S. 92/93).

Bei Bender/Nack/Treuer a.a.O.heißt es:

„Ereignisse, die kurz vorher, insbesondere in den letzten ca. 20 Minuten vor der Gehirnerschütterung oder dem Schock eintraten, fallen mehr oder weniger der Vergessenheit anheim, weil sie noch nicht endgültig im Langzeitgedächtnis verankert waren. Die Fixierung der nur vorläufig festgehaltenen Ereignisse ist in Folge der Bewusstlosigkeit oder des Schocks nicht mehr möglich. Auch wenn dieser Zustand relativ rasch vorübergehen sollte, bleiben gerade die letzten Minuten vor dem Unfall endgültig ausgelöscht. Die endgültige Löschung erfolgt umso radikaler, desto kürzer die Informationen schon im Gedächtnis waren. Daher gilt: Die Blockierung der Übernahme der Informationen in das Langzeitgedächtnis hat z.B. zur Folge, dass der Fahrer nur noch weiß, welchen Weg er mit dem Auto eingeschlagen hat, nicht aber, wann und wie der Fußgänger ihm ins Auto gelaufen ist.“

Bei Daniel Schacter (Daniel Schacter, Wir sind Erinnerung, Rowohlt-Verlag 1999) habe ich folgende interessante Geschichte hierzu gelesen:

In der Erwartung, dass es hin und wieder eine Gehirnerschütterung geben würde, begleiteten einige unternehmungslustige Forscher das Footballteam eines Colleges zu dessen wöchentlichen Spielen. Wenn es einen besonders harten Zusammenprall gegeben hatte, eilte einer der Wissenschaftler aufs Feld und befragte den benommenen Spieler. Als einer der Footballrecken den Ball in die gegnerische Abwehrlinie hinein trug, wurde er besonders hart genommen und torkelte zurück ins Gedränge. Dreißig Sekunden nach dem Zusammenprall befragt, glaubte der Spieler, er sei auf der Highschool, wusste aber genau, dass sein Team gerade einen Spielzug ausgeführt hatte, den man „32-Drive“ nennt. Zwanzig Minuten später hatte er wieder einen klaren Kopf, aber keine Erinnerung an den Zusammenprall oder an den 32-Drive. Alle Spieler, die Zusammenstöße dieser Art erlitten, reagierten ähnlich: Anfangs erinnerten sie sich an die unmittelbar vorangegangene Spielsituation, doch einige Minuten später war ihnen völlig entfallen, was ihnen zugestoßen und was für ein Spielzug durchgeführt worden war.

Wenn es also darum geht, Zeugenaussagen zu würdigen, bei denen Kopfverletzungen im Spiel waren, müssen das Gericht und auch die beteiligten Rechtsanwälte stets die Möglichkeit einer solchen retrograden Amnesie im Blick haben. Leider räumen dann viele Zeugen eben nicht ein, dass sie sich nicht mehr erinnern können, sondern konstruieren einen Unfallhergang, wie er sich vermeintlich vollzogen hat. Die Quelle dieses Wissens ist dann häufig diffus. Die Angaben könnten von anderen Unfallbeteiligten stammen, sie könnten aus den Umständen geschlussfolgert worden sein oder aus dem sogenannten Skriptwissen bzw. Schemawissen des semantischen Gedächtnisses stammen. Oder es ist eine Mischung aus alledem. Auch hier zeigt sich dann wieder die Binsenweisheit aller Beweiswürdigungen: Der größte Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge, sondern der Irrtum.