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Äußerung einer Richterin an einem Thüringer Landgericht während einer Beweisaufnahme, als ich den – vermeintlich unbeteiligten – gegnerischen Zeugen fragte, ob er einen bestimmten Anlass hatte, 60 m vor dem Kreuzungsbereich auf die dortige Ampel zu schauen:

„Verschonen Sie mich doch mit Ihrer Psychologie! Man sieht doch, wenn man auf eine Ampel zufährt, ob die grün ist oder nicht!“

Ja. Stimmt. Das sieht man. Aber das eigentliche Problem hat die Richterin nicht erkannt und das ist leider kein Einzelfall. Es handelt sich beim Blick auf eine Ampel um eine so genannte Routinehandlung, die während einer einzigen Fahrt zigmal, wenn nicht gar hundertfach vorgenommen wird, ohne dass sie auch nur die Chance hat, in das Gedächtnis überführt, um dann später – ggf. nach Monaten oder Jahren – noch erinnert zu werden.

Der schlichte Mechanismus, der dem zugrunde liegt und der in jedem Lehrbuch über Wahrnehmungspsychologie nachgelesen werden kann, ist vielen Juristen ein Buch mit 7 Siegeln.

Sie wissen nicht, dass:

– der Mensch ca. 10.000 Sinneswahrnehmungen pro Sekunde macht;

– dass das menschliche Wahrnehmungssystem daher stark selektieren muss, da das Gehirn ansonsten augenblicklich kollabieren würde;

– dass die Auswahl, der Selektionsprozess sachbezogen erfolgt, also nur das beobachtet wird, was augenblicklich interessiert;

– dass daher Informationen, die nicht interessieren, gar nicht erst kodiert werden, d.h. sie bekommen keine entsprechende Repräsentation im Gedächtnissystem;

– dass letztlich also alles, was nicht in den Kurzzeitspeicher und sodann in den Langzeitspeicher überführt wird, nicht erinnert und später dann eben auch nicht wahrheitsgemäß wiedergegeben werden kann.

Um eine getroffene Wahrnehmung später in einem Prozess zutreffend wiedergeben zu können, muss somit folgendes passieren:

Informationen müssen

a) wahrgenommen,

b) kodiert,

c) gespeichert und sodann

d) wiedergegeben werden.

Jeder dieser vier Phasen ist – wenn auch in unterschiedlichem Maße – fehleranfällig. Neben diese Fehlerquellen tritt das Phänomen der Lüge, einer bewusst falschen Wiedergabe vorhandener Informationen (vgl. hierzu u.a. Milne/Bull, Psychologie der Vernehmung, Bern 2003, S. 22; Daniel Schacter, Wir sind Erinnerung, Rowohlt Verlag 1999, S. 75; Artkämper/Schilling, Vernehmungen – Taktik, Psychologie, Recht – 5. Aufl., Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH, 2018 Seite 32).

Aussagen von Zeugen, man habe also eine Routinehandlung beobachtet und könne sich noch genau an sie erinnern, sind daher unglaubhaft, weil sie wissenschaftlichen Ergebnissen widersprechen, es sei denn, dass derjenige, der diese Aussage tätigt, zumindest einen nachvollziehbaren Grund angeben kann, weshalb er seine Aufmerksamkeit ausgerechnet auf eine solche unspektakuläre Sache wie eine gründe Ampel 60 m vor der eigenen Einfahrt in den Kreuzungsbereich gerichtet hatte. Gleiches gilt übrigens für die allseits bekannten Bekundungen von Beifahrern, man habe genau mitbekommen, wie der Fahrer seinen Blinker eingeschaltet hatte („So etwas hört man doch!“).

Die eingangs genannte Äußerung der Richterin zeigt, dass sie nicht wusste, dass Beobachtungen („das sieht man doch“) auch kodiert werden müssen, um zutreffend erinnert und wiedergegeben werden zu können. Dies ist ein häufiger Fehler bei Beweiswürdigungen und am Ende kann der geneigte Leser dann im Urteil den üblichen Satz wiederfinden: „Das Gericht sieht keinen Anlass, an der glaubhaften Aussage des Zeugen zu zweifeln.“

Bilder: https://pixabay.com/de/illustrations/geist-gehirn-denkweise-wahrnehmung-5444
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