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In meinen Schriftsätzen zur Beweiswürdigung von Zeugenaussagen betone ich immer wieder, dass wir Juristen zur Unterscheidung von Wahrheit und Lüge die Undeutsch-Hypothese verwenden sollen (eigentlich: müssen). Sie besagt, dass sich Aussagen über selbst erlebte faktische Begebenheiten von Äußerungen über nicht selbst erlebte Vorgänge unterscheiden durch Unmittelbarkeit, Farbigkeit und Lebendigkeit, sachliche Richtigkeit und psychologische Stimmigkeit, Folgerichtigkeit der Abfolge, Wirklichkeitsnähe, Konkretheit, Detailreichtum, Originalität und – entsprechend der Konkretheit jedes Vorfalls und der individuellen Erlebnisweise eines jeden Beteiligten – individuelles Gepräge. Wer etwas erzählt, was er nicht selbst in der Realität erlebt hat, spricht unvermeidlich davon wie der „Blinde von den Farben.“ (Udo Undeutsch, 1967).

Auf dieser Basis wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Realkennzeichen entwickelt, die helfen sollen, Aussagen über erlebte Vorgänge (die aus dem so genannten episodischen Gedächtnis abgerufen werden) von erfundenen zu unterscheiden (die sich die lügende Person aus dem Schemawissen/Skriptwissen des sematischen Gedächtnisses herleiten muss). Dies ist mittlerweile Standard in der aussagepsychologischen Begutachtungspraxis und es fragt sich schon deshalb, warum Gerichte diese Erkenntnisse scheinbar beharrlich ignorieren, aber in besonders komplizierten Fällen, vor allem bei kindlichen Zeugen in Missbrauchsprozessen, Gutachten einholen, die eben jene Erkenntnisse berücksichtigen, und dann auf dieser Basis entscheiden. Dann könnte man sich doch auch selbst diese Erkenntnisse aneignen und in der täglichen Praxis anwenden, oder?

Die gesetzlichen Vorschriften zur Beweiswürdigung (insbesondere §§ 286 ZPO, 261 StPO) stellen den entscheidenden Richter zwar weitgehehnd frei. Er ist insbesondere so gut wie an keine Beweisregeln gebunden.  Urteile oder entscheidende Beschlüsse der Gerichte sollten aber, wenn sie gerecht sein und von den Rechtssuchenden akzeptiert werden sollen, auf einer objektiv nachvollziehbaren und diskutablen Grundlage beruhen und keine Urteilsheuristiken darstellen (also mentale „Abkürzungen“, die ohne ausreichende Tatsachengrundlage zu schnellen Ergebnissen führen) , die zwar im Alltag vertretbar und häufig auch sinnvoll sind, aber vor Gericht zu schweren Fehlurteilen führen können.

Sie beruhen auf diffusen, nicht nachvollziehbaren Erfahrungen von Richterinnen und Richtern, auf einem angeblichen „Judiz“, welches schon deshalb zweifelhaft ist, weil viele Richterinnen und Richter derzeit gerade in Thüringen neu eingestellt werden (was angesichts der Alterstruktur im Freistaat natürlich völlig richtig ist), die aber nach Abschluss ihres zweiten Staatsexamens sofort in die Tatsacheninstanzen hinein katapultiert werden, wo sie nach teils umfangreichen Beweiaufnahmen entscheiden sollen, wer hier die Wahrheit gesagt hatte und wer nicht. Auf welche Lebenserfahrungen sollen diese jungen Juristinnen und Juristen bitte schön zurückgreifen? 

Es gibt eigentlich nur eine vernünftige Lösung und das ist die Anwendung der Undeutsch-Hypothese und anderer Erkenntnisse aus der Wahrnehmungs- und Aussagepsychologie, weil es das Beste ist, was wir derzeit haben. Die Undeutsch-Hypothese ist zumindest dann bestens geeignet, wenn es gilt, Wahrheit von Lüge zu trennen. Dies wurde erneut durch eine wissenschaftliche Untersuchung bestätigt (Stefanie Hettler, Wahre und falsche Zeugenaussagen, Evaluation von Zeugenaussagen mit unterschiedlichem Wahrheitsgehalt mittels erweitertem Kanon inhaltlicher Kennzeichen, AV Akademiker Verlag, Saarbrücken 2012). 20 Polizeibeamte berichteten von einem belastenden Einsatz, den sie selbst erlebt hatten. 20 weitere Polizeibeamte gaben die Erlebnisse von Kollegen als eigene aus, konnten dabei also auf Vorinformationen und auch eigenes Erfahrungswissen zurückgreifen. 20 Studenten ohne Vorerfahrung im Polizeidienst, mussten in einer dritten Gruppe einen belastenden Polizeieinsatz erfinden. Die Studie kam zu folgendem Ergebnis:

Mit Hilfe der Glaubhaftigkeitsmerkmale (Realkennzeichen) lassen sich wahre von erfundenen Aussagen trennen. Die Undeutsch-Hypothese könne bestätigt werden.

Untersucht wurden auch bestimmte negative Merkmale (Lügensignale). Hier wurde eingeschätzt, dass weitere Studien nötig sind, um „Halbwahrheiten“ zu enttarnen. Wichtig sei hier auch, der so genannten „Baseline“ mehr Aufmerksamkeit zu schenken, um Strukturbrüche in der Aussage der Zeugen zu erkennen, wenn sie von ihrer „sicheren“ Wahrnehmungsgrundlage abweichen und zu fantasieren beginnen.

Auch diese wissenschaftliche Arbeit zeigt, dass die Undeutsch-Hypothese universell ist und eben nicht nur im Sexualstrafrecht gilt, wie einige Richterinnen und Richter meinen. Sie sollte also überall angewendet werden, auch im Zivilrecht. Alles andere ist „Bauchwissen“, Kaffeesatzleserei und hat im schlimmsten Fall die Qualität einer Entscheidung durch Würfeln.   

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