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Es ist bezeichnend. In einem Hinweisbeschluss des OLG Jena, mit dem man in einer Arzthaftungssache die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil per Beschluss zurückweisen möchte, heißt es:

„Soweit die Klägerin weiter auf Annahmen der Aussagepsychologie zurückgreift, ist dieser Vortrag nicht geeignet, die dem Richter in § 286 Abs. 1 Satz ein ZPO übertragene Freiheit der Beweiswürdigung im Sinne von festen Beweisregeln einzuschränken. Ein Richter ist lediglich an die Denk-, Natur-und Erfahrungsgesetze gebunden, darf aber ansonsten die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln nach seiner individuellen Einschätzung bewerten. Der Vorgang der Überzeugungsbildung ist nicht von objektiven Kriterien oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen abhängig, sondern beruht auf Erfahrungswissen und dem Judiz des erkennenden Richters (vgl. im einzelnen Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 286, Rdnrn. 1 ff., 12 ff. m.w.N.). Demzufolge kann auch unter Hinweis auf die Aussagepsychologie nicht hinreichend begründet werden, dass die Tatsachenfeststellungen des Landgerichts unzutreffend sind.“

Bezug genommen wird zur Begründung dieser Auffassung insoweit auf einen Beschluss des 2. Zivilsenats des OLG Frankfurt, indem es heißt:

„Die für das Strafrecht entwickelte sogenannte „Nullhypothese“ (vgl. BGH, NJW 1999, 2746 ff.) ist nicht geeignet, die dem Richter in § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO übertragene Freiheit der Beweiswürdigung im Sinne von festen Beweisregeln einzuschränken. Ein Richter ist lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden, darf aber ansonsten die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln nach seiner individuellen Einschätzung bewerten. Der Vorgang der Überzeugungsbildung ist nicht von objektiven Kriterien oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen abhängig, sondern beruht auf Erfahrungswissen und dem Judiz des erkennenden Richters (vgl. im einzelnen Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 286, Rdnrn. 1 ff., 12 ff. m.w.N.). Demzufolge begründen auch die Annahmen der Aussagepsychologie keine Anhaltspunkte, welche gegen die Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen durch das Landgericht sprechen könnten.“

(OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 8.4.2019 – 2 U 11/19, BeckRS 2019, 16602)

Abgesehen davon, dass man hier schön erkennen kann, wie durch Abschreiben anderer Urteile Rechtsprechung manifestiert wird und abgesehen davon, dass diese Auffassung des 2. Zivilsenats im diametralen Gegensatz zur Rechtsprechung des 22. Zivilsenats des OLG Frankfurt steht (OLG Frankfurt Urt. v. 9.10.2012 – 22 U 109/11, BeckRS 2012, 24069 = NJW 2013, 664; OLG Frankfurt, Urteil vom 08.02.2011 – 22 U 162/08, BeckRS 2011, 04241) ist sie schlicht falsch. Es geht nämlich nicht um die Anwendung von Beweisregeln, sondern um eine objektivierbare Grundlage für eine freie Beweiswürdigung. Es verstößt ja gerade gegen Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze, wenn man empirisch gesicherte Grundlagen der Psychologie verletzt!

Wie ich in einem früheren Beitrag ausführte, geschieht richterliche Überzeugungsbildung in aller Regel durch Glaubhaftigkeitsattribution infolge sogenannter Urteilsheuristiken, deren Treffergenauigkeit im Bereich der allgemeinen Ratewahrscheinlichkeit liegt. Da könnte man auch gleich würfeln (etwas, was man den Beteiligten eines Zivilprozesses durchaus raten kann, um Beweisaufnahmen durch Zeugenvernehmungen vor Gericht zu vermeiden). Wenn Urteile durch nicht gesicherte Alltagstheorien gefällt werden, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet (so schon Bürkle, Richterliche Alltagstheorien im Bereich des Zivilrechts, Tübingen 1984, S. 102/103).

Wie die beiden Entscheidungen des OLG Jena und des 2. Zivilsenats des OLG Frankfurt sehr schön zeigen, weigert man sich einfach, den notwendigen Paradigmenwechsel durchzuführen, so wie er im Strafrecht bereits Eingang gefunden hat. Es ist halt mit viel Aufwand verbunden, sich in ein fremdes Fachgebiet, nämlich der Aussagepsychologie (inklusive Wahrnehmungspsychologie) einzuarbeiten, obwohl es die ureigenste Aufgabe der entscheidenden Gerichte sein müsste, nach Möglichkeit „richtige“ Urteile zu fällen.